Martina Lange                    

 

Leseproben ...

Herzstolpern

David stand still am Anfang der Straße. Langsam rutschte ihm der Rucksack von der Schulter. Am abgenutzten Riemen glitt er über Davids Arm hinunter, bis er ihn in der Hand spürte und zufasste. Das Eigengewicht zog den Sack zu Boden. Mit einem satten Plumpsen traf er auf und schlug David gegen die Wade.

Als er gegangen war, stachen die Bäume rechts und links von ihm nackt in den Himmel. Jetzt standen sie in leuchtendem Grün. Dazwischen lagen all die Geburtstage, Ostern, Weihnachten und der Hochzeitstag. Er hatte Nora nicht einmal gefragt, ob sie mit ihm kommen würde. Der fremd gewordene Heimweg lag vor ihm. Nur wenige Schritte weiter und sie würde ihn sehen können. Wenn er sich hier umdrehte und wegging, dann würde sie noch nicht einmal erfahren, dass er dagewesen war. Zurück. Sein Herz stolperte und seine Knie wurden wie warmer Pudding.

Aber vielleicht war sie gar nicht mehr dort. Wartete nicht länger auf ihn in dem großen, leeren Haus.

Nun, nicht ganz leer. Immerhin hatte er auch die Kinder zurückgelassen. Sie musste ihn verachten. Und sie hatte Recht. Aber er würde alles, wirklich alles ertragen, wenn sie nur da wäre. Zum tausendsten Mal fragte er sich, ob Nora jetzt noch zuhören würde, wenn er ihr zu erklären versuchte, was mit ihm geschehen war. Mit Worten so unvollkommen, dass sie ihm damals nicht hatten über die Lippen kommen wollen. Er hatte mit niemandem sprechen können, danach. Wer hätte auch nur ansatzweise nachvollziehen können, in welch destruktiven Wirbeln seine Gedanken ihn aus seinem Leben gerissen hatten?

Ein junger gesunder Mann, der sich sein Leben erfolgreich gestaltet hatte und der genau das plötzlich nicht mehr ertragen konnte. Er hatte sich ein Gebirge aus Erfolgen und Pflichten zusammengetragen, dessen Ausmaße und Gewicht mit jedem Stein schlimmer auf ihm lasteten, ihn begruben und allmählich jede Luft zum Atmen nahmen.  

An jenem Morgen fuhr David einfach weiter. Erkonnte den Zug an der gewohnten Station nicht verlassen. Granitschwer war sein Körper, sodass es ihm nicht gelang sich aus dem Sitz zu stemmen. Die Welt auf der anderen Seite der Scheibe wischte vorüber. Streifiges Grün wechselte über in schmutzige Industriegebiete und immer flacher werdendes Land. Nichts davon berührte ihn. Die Welt sprach nicht länger zu ihm. Nicht verstummt, nein, als würde er die Sprache, die sie benutzte, nicht mehr verstehen.  

Über der verblassenden Erinnerung presste Daviddie Augen zusammen und fasste den Riemen fester. Die altbekannte Atemnot jedochblieb aus. Dieses Symptom hatte er überwunden.  

Er war damals ausgestiegen, als der Zug die Endstation erreicht hatte. Durch unbekannte Straßen wanderte er, mehr als ein Jahr lang. Zuerst hinunter ... 

... wohin  David wanderte  und ob er den Mut findet in sein Leben zurückzukehren lesen Sie  im Schreiblust Verlag Dortmund. 

© 2013 Martina Lange
-  ungekürzte Fassung im Schreiblust-Verlag, Dortmund   /Archiv
 

 

                                     Schattenwelt

 

Der Januar klebte auf den Straßen und Gehwegen. Lucie zwängte sich aus der überfüllten Straßenbahn. Die herandrängenden Fahrgäste versperrten ihren Weg und so trat sie in eine der ölig schimmernden Pfützen.

Sofort durchweichte die trübe Salzbrühe ihren Stiefel. Angeekelt schüttelte sie das eisige Wasser ab und überstieg einen der schmutzigen Schneehügel vor der Haltestelle. Schnee rutschte von oben in den Stiefelschaft. Nun waren beide Füße nass und kalt.

Notgedrungen ergab sie sich den widrigen Umständen, zog ihren schwarzen Schal zurecht, die dazu passende Mütze über beide Ohren und tief ins Gesicht. Ein eisiger Windstoß trieb die mit ihr Angekommenen auseinander und auch Lucie vor sich her.

Die Luft roch nach Schnee und Abgasen. Die Hände tief in den Taschen vergraben, wich sie entgegenkommenden Passanten aus. Jemand trat unerwartet aus einem der Geschäfte. Lucie gelang es gerade noch auszuweichen, um einen Zusammenstoß zu verhindern, und geriet dafür in den Strom der Vorbeieilenden. Von allen Seiten erntete sie unwillige Äußerungen. Über die Köpfe hinweg bemerkte sie für einen Moment die Gestalt eines Mannes.

Anfang dreißig, markantes Gesicht und Brille. Er erinnerte sie vage an ihren neuen Nachbarn, der ihr immer so hilfsbereit die Tür aufhielt. Sobald sie aber seinen Blick über ihr Gesicht streichen spürte, wandte sie sich rasch ab. Sie wollte niemandem auffallen.  

Die Laternen tauchten die Gehsteige in mitleidlose Helligkeit. In den Ecken, hinter den Müllcontainern und Hinterhöfen wurde die Dunkelheit dagegen umso dichter.

Dort war eine ganz andere Welt. Geboren erst durch die Erleuchtung aller Wege, entzog sie sich den kalten, grell schillernden Lichtern der Stadt. Allgegenwärtig fraßen sie ausnahmslos selbst den kleinsten Funken positiver Energie. Alles erschien fahl, besonders die Menschen. Ihre blicklosen Augen steigerten Lucies Schaudern, beschleunigten ihre Schritte, während sie sich zwang, nur auf den versulzten Gehweg zu sehen. Noch zwei Straßen, sprach sie sich innerlich Mut zu, dann war sie zu Hause.  

Sehnsüchtig dachte sie an ihre Küche, in der sie an anderen Tagen zu dieser Zeit bereits ihren Kakao trank.

Heute hatte sich Frau Freitag an Lucie erinnert. Die Erinnerungen kamen ihrer Kollegin immer dann, wenn der Chef bereits gegangen war und auch Frau Freitag früher nach Hause wollte. Lucie hatte genickt, woraufhin Frau Freitags Mund gelächelt und sie "Schätzchen" genannt hatte.

Morgen konnte sie wieder allein frühstücken, wenn sie erneut unsichtbar geworden war. Das störte Lucie nicht im geringsten, wohl aber der Umstand, an den mit Finsternis bevölkerten Winkeln vorbeigehen zu müssen.

Allmählich wurde die Zahl der Entgegenkommenden geringer. Nun konzentrierte sie sich ganz auf das vor ihr liegende Mietshaus aus den späten Sechzigern. Als sie die Haustür öffnete, drängte sich der vertraute Geruch von Bohnerwachs und Küchendünsten an ihr vorbei.

An der linken Tür im ersten Stock mischte sich kalter Zigarettenrauch hinzu. Lucie verzog heute nicht einmal das Gesicht. Sie hastete lediglich weiter die Stufen hinauf. Vorbei am dritten Stock mit den Blumen vor der einen Tür und dem gelbenSack vor der anderen, bis hinauf zum Dachgeschoss. Noch bevor sie ihre eigene Wohnung erreichte, hielt sie bereits den Schlüssel in der Hand. Ihr Nachbar kam ihr schwungvoll mit wehendem Schal auf den letzten Stufen entgegen. Er grüßte fröhlich, stolperte über die nächsten zwei Stufen und eilte unbeirrt weiter die Treppe hinunter. Lucie erstarrte, murmelte ein schmales 'Guten Abend', aber das hörte er sicher nicht mehr. Er sah aus wie jener Mann, der sie nach dem Beinahzusammenstoß angesehen hatte. Konnte es sein, dass sich zwei Menschen dermaßen ähneln? Verwundert steckte sie den Schlüssel in die Tür. Dieser Tag war eindeutig zu lang gewesen.

Im kleinen Flur entledigte Lucie sich achtlos der feuchten, schwarzen Jacke, gefolgt von Schal und Mütze. Mit beiden Händen wuschelte sie sich ihre geplätteten blonden Haare auf. Eigentlich mochte sie keine Mützen...

Lucie wirkliches Leben findet in ihrer kleinen Wohnung statt. Doch an diesem Abend kommt alles ganz anders.

Lesen sie weiter  im Schreiblust-Verlag Dortmund (Archiv 2014) 

© 2014 /2019 Martina Lange
-  ungekürzte Fassung im Schreiblust-Verlag, Dortmund  und in "Sommersüße"